Heinrich Nüsslein

1879 - 1947

  • Eine unirdische Existenz von mir, Mischtechnik auf Papier, 36 x 29 cm

Heinrich Nüßlein, der sich durch die Einweihung in den Spiritismus in den1920er Jahren zu einem Schreib- und Zeichenmedium entwickelt, glaubt in seinen Werken manifestiere sich der Geist großer Künstler. Wie auch bei anderen Medien, entstehen seine von visionären Architekturen und geisterhaften Gestalten bestimmten Bilder im Halbdunkel. Er wischt diese in seinen Arbeiten mit Watte oder Papier aus den einzelnen aufgetragenen Farbflächen heraus.
Seine Bilder erinnern an phantastische Landschaften, durchdrungen von archaisch-kolossalen Gebäuden, und an verschwommene, kolorierte Fotoportraits. Ihre stark komplementäre Farbigkeit unterstützt den unwirklichen Charakter der Bilder und entrückt sie zusätzlich in eine übernatürliche Sphäre.


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Heinrich Nüßlein (1879 - 1947) hat seine Bilder weder signiert noch datiert. Wozu auch, kamen sie doch aus einer Sphäre jenseits seines bewussten Wissens, indem er selbst nur das Medium war. "Nicht Ich male sondern Es malt" sagte er selbst über diesen mysteriösen Prozess, der mit enormen Tempo in der Dauer von einer bis fünfzehn Minuten mit ebenso schwungvollen wie sicheren Gesten Landschaften und Portraits auf dem Papier entstehen ließ. In den 20er Jahren hatten die Surrealisten eine ähnliche Arbeitsweise zur Methode erhoben, um der bewussten Kontrolle des gestalterischen Vorgangs ein Schnippchen zu schlagen und das unerschöpfliche Reservoir des Unbewussten malerisch zur Entfaltung zu bringen. Während die Surrealisten, allen voran André Breton, sich mit Konzepten und Theorien um die kreative Aktivierung unbewusster Kräfte bemühen, folgte ein Maler wie Nüßlein diesem "Prinzip", ohne je ein Prinzip gehabt zu haben.

Er ließ den Pinsel einfach laufen, benutzte häufig ein Läppchen oder die Fingerkuppen zum Verstreichen der Farbe, schloss dabei gelegentlich sogar die Augen und malte mehrere Bilder bei völliger Dunkelheit. Über 20000 Werke soll er seit 1920 auf diese Weise geschaffen haben, von denen allerdings nur noch ein paar hundert erhalten sind. Im Beruf Antiquitätenhändler (nachdem er zuvor Kunstpostkarten und Reklamemarken vertrieben hatte) begann sich der in Nürnberg lebende Nüßlein auf Anregung eines befreundeten Kriminalbeamten seit Anfang der 20er Jahre für Metaphysik, Spiritismus und andere esoterische Wissenschaften zu interessieren. Nach anfänglichen Bleistiftkritzeleien entwickelte sich sehr schnell seine Ölmalerei, indem er sich darin ganz „der Führung geistiger Sphären" überließ. Er selbst glaubte, seine Eingebung „aus anderen Welten und Planeten zu bekommen", sozusagen als „Antenne für kosmische Einflüsse", vermittelt über die „feinstofflichen Kräfte des Weltalls".

Die Bilder, die so entstanden, enthalten allerdings durchaus allerhand bekannte Motive, vor allem aus der griechischen und römischen Antike, aber auch aus der Malerei des Symbolismus. Immer wieder bestimmen rätselhafte Tempelanlagen (wie der Jupiter - Tempel auf den Arbeiten in der Galerie Susanne Zander) das Zentrum der Bilder, bevölkert von schemenhaften Gestalten (die mal Engel, mal Gespenster sind), umrahmt von einer fremd - vertrauten Natur, die in ihrer Weite weder Anfang noch Ende kennt. Sanft und schwungvoll zugleich, in unorthodoxer Malweise hat Nüßlein seine private Mythologie in Bilder gebracht, in denen sich die Stimmung des Traums und die Sehnsucht des Mystischen berühren. Jede seiner vibrierenden Landschaften erscheint wie ein märchenhaftes Bühnenbild, eine romantisch - unheimliche Phantasie, eine in die Zukunft gerichtete Utopie, die sich aus der fernen Vergangenheit der klassischen Kultur speist, und die irgendwo zwischen den Hügeln Griechenlands und der Milchstraße liegt.

Das Vage, Unscharfe in Nüßleins Kompositionen wurde nicht zuletzt durch eine starke Kurzsichtigkeit des Malers begünstigt, die ihn grundsätzlich hinderte, nach der Natur zu zeichnen. Angeblich besaß Nüßlein nur noch ein Neuntel der normalen Sehkraft. Den Kunstmarkt prinzipiell ablehnend (wie er niemand für berechtigt ansah, mit (s)einer „übernatürlichen Gabe" Geschäfte zu machen), erlaubte sich Nüßlein dennoch immer wieder Ausnahmen. Schon Anfang der 30er Jahre wurden seine Bilder in Galerien im In - und Ausland gezeigt, sogar in New York und Sydney. Ob es sich dabei um konventionelle Kunstausstellungen oder möglicherweise um Veranstaltungen mit parapsychologischem Hintergrund handelte, liegt wie vieles in Nüßleins Biografie im Dunklen. Nachdem er 1948 im süddeutschen Ruhpolding starb (wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte), tauchten seine Werke sowohl in namhaften Kunstgalerien als auch „im Lichte der Schule Aryana", einer mysteriösen Religionsgemeinschaft auf. Die unkonventionelle Verbreitung seiner Kunst entspricht ihrer Botschaft, die sich schlafwandlerisch zwischen allen Kategorien und Hindernissen hindurchbewegt, um schließlich auf dem First des Daches mit dem Kosmos Auge in Auge zu stehen. Das Faszinosum von Nüßleins Malerei reicht weit, so weit, dass sie den Punkt erreichen, an dem Künstlerische und religiöse Sehnsucht einander nahezu ununterscheidbar berühren.

Jürgen Kisters